03.09.2010

Leitlinien und Empfehlungen - was bedeuten sie für die Veterinärmedizin?


Unter diesem Titel hatte die Oberhessische Gesellschaft für Natur- und Heilkunde, Abteilung Veterinärmedizin, am 7. Juli 2010 zu einer Fortbildung am Fachbereich Veterinärmedizin der Justus-Liebig-Universität Gießen eingeladen und Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hartwig Bostedt (ehemals Klinik für Geburtshilfe, Gynäkologie und Andrologie der Groß und Kleintiere am Fachbereich Veterinärmedizin in Gießen) als Referenten gewinnen können. Das Thema war gut gewählt, denn Leitlinien gewinnen zunehmend an Bedeutung. So ging Prof. Bostedt in seinem interessanten und gut strukturierten Vortrag auf die grundsätzliche Relevanz sowie auf die in der Veterinärmedizin existierenden Leitlinien ein.

Allgemeines
Die Leitlinie hat empfehlenden und ratgebenden Charakter. Sie ist nicht rechtsbindend und wird auch als Standard oder Leitfaden bezeichnet. Im Gegensatz dazu steht die Richtlinie, die verpflichtende Vorschrift ist und einem Gesetz gleichkommt. Grundsätzlich besteht allgemeine Behandlungs- und Methodenfreiheit im Heilberufesystem, wobei bestimmte Grenzen zu beachten sind. So muss eine umfassende Sorgfalt u. a. in der Diagnosestellung und im therapeutischen Handeln gewahrt werden. Dabei beinhaltet die Sorgfalt „alle Merkmale, die von einem pflichtgetreuen Durchschnittstierarzt des Faches in der konkreten Situation zu erwarten sind“. Die „übliche Sorgfalt“ reicht nicht aus, wenn sie nicht dem geforderten Standard entspricht.

Entstehung und Zweckbestimmung
Die rasant ansteigenden Erkenntnisse und die Tatsache, dass diese Erkenntnisse dem Tierarzt oder der Tierärztin im konkreten Fall nicht immer zur Verfügung stehen sowie die Zunahme von Streitfällen (z. B. Ankaufuntersuchung, Röntgenbefundbeurteilung) führten zur Entstehung von Leitlinien. Auf der Grundlage gesicherter Kenntnisse und aktuellen Wissens legen Leitlinien bestimmte Standards fest und stellen eine Information und Instruktion für tierärztlich Tätige dar, deren Handeln in den von der Leitlinie angesprochenen Bereichen sicherer, transparenter, berechenbarer und messbarer wird. Leitlinien können nützlich und hilfreich sein für Berufsanfänger, aber auch für bereits erfahrene Kolleginnen und Kollegen, die trotz hohen Wissensstandes mit einem nicht alltäglichen Fall konfrontiert werden. Gerichte nutzen Leitlinien als „außerrechtliche Vorschriften“ zur Information, und für Gutachter stellen sie eine Orientierungshilfe da.
Allerdings unterliegen Leitlinien einem ständigen Wandel. Sie sind fortwährend zu analysieren, zu korrigieren und im Bedarfsfall der Entwicklung auf den tierärztlichen Berufsfeldern anzupassen.

Aufklärung und Dokumentation
Prof. Bostedt ging insbesondere auf die erforderliche Aufklärung der Patientenbesitzer sowie auf die Pflicht zur Dokumentation ein und stellte deren Bedeutung heraus. Zur Aufklärung gehört eine Verlaufsaufklärung über Art, Umfang, Durchführung einer Behandlung oder eines Eingriffes sowie über mögliche Komplikationen. Weiterhin erforderlich ist eine Aufklärung zu Diagnose und Risiko hinsichtlich der therapeutischen Maßnahmen. Auch im Hinblick auf die Tierschutzrelevanz sowie die entstehenden Kosten ist eine Aufklärung unabdingbar. Letztere wird in der Veterinärmedizin ausdrücklich verlangt.
Die Pflicht zur Dokumentation ist in den jeweiligen Heilberufsgesetzen der Bundesländer geregelt und in der Musterberufsordnung der Bundestierärztekammer enthalten. Die Dokumentationspflicht dient nicht nur der eigenen Information, sondern auch der Befund- und Beweissicherung sowie der Transparenz. Mit- und nachbehandelnde Kollegen/innen müssen sich anhand der Aufzeichnungen einen Überblick verschaffen können. Die Dokumentation muss zeitnah vorgenommen werden. Mögliche Formen sind Karteikarten, elektronische Aufzeichnungen sowie auch standardisierte Vordrucke. Auch eine telefonische Beratung ist zu dokumentieren.

Beispiele
Ungenügende Aufklärung und Dokumentation führen immer wieder zu Konfliktfällen. So schilderte Prof. Bostedt den Fall einer Hündin, bei der eine Sectio caesarea vorgenommen wurde, für welche die erforderliche Einwilligung vorhanden war. Intra operationem zeigte sich, dass eine Ovariohysterektomie medizinisch notwendig war. Hierfür fehlte jedoch die Einwilligung, so dass der Eingriff trotz medizinischer Notwendigkeit rechtswidrig war. Ein weiterer Fall drehte sich um eine Hündin, die in der Geburt in eine Kleintierklinik gebracht wurde. Nachdem die konservative Geburtshilfe erfolglos blieb, wurde eine Sectio caesarea vorgenommen; alle Welpen waren jedoch tot. Die Patientenkartei enthielt keine Aufzeichnung über eine Ultraschall-Untersuchung und somit auch keinen Hinweis auf die Vitalität der Feten. Im nachfolgenden Verfahren ging das zuständige Gericht davon aus, dass die Ultraschall-Untersuchung nicht stattgefunden hat, weil die Dokumentation darüber fehlte.
Auch in der Diskussion, die sich dem Vortrag anschloss, wurde mehrfach die Wichtigkeit einer angemessenen Dokumentation angesprochen

Braucht die Veterinärmedizin Leitlinien?
Auf diese Frage antwortete Prof. Bostedt mit „Ja, für ein korrektes Handeln in bestimmten Fallkonstellationen“. Im Hinblick auf die in der Humanmedizin vorhandenen 1300 Leitlinien sei aber eine gezielte Auswahl der Fragestellungen notwendig. Die Praxisnähe sei unbedingt beizubehalten. Eine zu starke Einschränkung der Methodenfreiheit sowie eine Überhäufung mit Leitlinien seien zu vermeiden.

Momentan existierende Leitlinien
Prof. Bostedt führte die derzeit existierenden Leitlinien in der Veterinärmedizin auf und benannte auch Leitlinien, die noch in Vorbereitung sind.

Allgemein

  • Antibiotika-Leitlinie (BTK, AGTAM, aktuelle Ausgabe vom Oktober 2010)
    www.bundestierärztekammer.de
  • NEU (Oktober 2010):
    Leitlinien zur Gewinnung, Lagerung, Transport und Verabreichung von Blut und Blutprodukten im Veterinärbereich (BVL-Arbeitsgruppe)
    www.bvl.bund.de


Pferde


Kleintiere

  • Parasitenbekämpfung BTK, DVG, BPT (DTBl. 9/2007), deutsche Adaptation der ESCCAP-Empfehlung (Bekämpfung Ektoparasiten, Dermatophytosen, Endoparasiten)
    www.esccap.org
  • Leitlinie zur Impfung von Kleintieren (Beilage zum DTBl. 8/2009, Stiko Vet im BPT, DGK-DVG, BTK)
    www.dgk-dvg.de
  • Empfehlungen zur Aufklärung und Dokumentation in geburtshilflichen Fällen bei Kleintieren (DTBl. 6/2009 S. 774, BPT-Arbeitsgruppe)
    www.tieraerzteverband.de
  • NEU (Oktober 2010):
    Empfehlungen für die Schmerztherapie bei Kleintieren (ITIS - Initiative tiermedizinische Schmerztherapie - in Zusammenarbeit mit BTK, DVG, DGK-DVG)
    www.i-tis.de


Nutztiere

  • Leitfaden über orale Anwendung von Tierarzneimitteln im Nutztierbereich über das Futter oder das Trinkwasser (BMELV-Arbeitsgruppe)
    www.bmelv.de
  • Bestandsbetreuung
    www.tieraerzteverbande.de


Leitlinien in Vorbereitung

  • Leitlinie zur gynäkologischen Untersuchung der Stute (BPT, DVG, GPM)
  • Leitlinie zum Geburtsmanagement (DVG)



Marion Selig, DVG-Geschäftsstelle